Shakespeare


Sabine Kirfel

 


Verdammt noch mal, was gibt's hier zu sehen? Ja, Sie meine ich, merken Sie nicht, wie Sie mich anstarren? Sie starren irritiert auf dieses Häuflein Mensch, das einmal ich war. Ja, ich liege hier im Bett. Ja, ich kann mich kaum noch bewegen. Ja, ich weiß, dass es bald aus sein wird mit mir. Ja, ja, ja. Es ist betriebsam um mich herum. Ein Betrieb ist das... Was für eine Geschäftigkeit… Aber niemand da, der mit mir beschäftigt ist, der sich zu mir setzt, mit mir spricht, mir zuhört oder einfach nur meine Hand hält. Schon wieder Besuch. Nicht für mich. Für die Frau im anderen Bett, die mit der Magensonde. Dauernd  hat sie Besuch. Mich besucht nur Klara, meine Stieftochter. Ab und zu. Sie wohnt in einer anderen Stadt, hat viel Arbeit und wenig Zeit, aber zum Glück ein kleines Auto. Fast jeden Sonntag macht sie sich auf den Weg zu mir. Wie unendlich lang eine Woche sein kann... Tagelang würdigt mich niemand eines Blickes. Schaut mich niemand an. Blicke ich niemandem in die Augen. Kommen sie zur Visite, werden meine Hände feucht und mein Herz rast. Wieviele sind es? Dann bleiben ihre Blicke auf meinem Krankenblatt haften oder auf meinem Bauch, den ihre Hände kneten. Bis ich mich vor Schmerzen winde. Wie geht’s dem Tumor heute? Gewachsen? Ja doch, merk' ich selber. Inoperabel? Ja, zum Teufel noch mal. Die Blicke der Schwestern suchen die Blicke der Doktoren, nicht die meinen.noperabel? Ja, zu Teufel noch mal. Die Blicke der Schwestern suchen die Blicke der Doktoren Kommen sie allein, saugen sich ihre Blicke am Laken fest, das gewechselt werden muss, am Teller, der noch voll ist, an meinem abgemagerten Körper. Die Putzfrauen haben nur Augen für den Staub, die Fußspuren der Besucher auf dem Linoleum. Ich liege hier in diesem supermodernen  Krankenhausbett und blicke Euch an. Niemand blickt zurück. Niemandem blicke ich in die Augen… und niemand blickt in meine. Vorhin waren sie wieder alle da. Ärzte, Schwestern, Praktikanten. Standen hier an meinem Bett. Und waren weit weg. Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsam sein. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein.

 

Wissen Sie, mir kann das eigentlich egal sein. Jetzt, wo ich weiß, dass es zuende geht, gewinnen meine Gedanken an Klarheit. Wenigstens etwas, Licht in der Dunkelheit. Mein Leben zieht an mir vorüber, ich bin nicht besonders traurig, froh – zugegeben – auch nicht. Irgendwie über allem schwebend und im Gleichgewicht. Merkwürdig. Genau danach habe ich immer gesucht. Als ich noch richtig am Leben war und das Leben mir oft – zu oft - wie ein Klotz am Bein hing. Das ist vorbei. Mir ist, als blicke ich auf den Grund eines Sees, ich nehme alles wahr. Alles erscheint in einem geheimnisvollen Licht. Eigentlich nicht unangenehm. Eigentlich nicht angenehm.

Hier liege ich also, meistens auf dem Rücken, während meine Zeit zur Neige geht und bin beschäftigt. Niemand kann sehen, wie sehr ich in Anspruch genommen bin oder auch nur ahnen. Und ich will auch nicht mit der Frau im anderen Bett darüber reden. Meine Gedanken beschäftigen mich. Bald werde ich nicht mehr sein und dann hört auch mein Denken auf. Aber ja, Sie haben Recht: Als ob die Welt sich darum schert, ob ich denke oder nicht, ob ich bin oder nicht... Ob irgendjemand denkt oder ist oder nicht in dieser unwirtlichen Grenzstation zwischen Gestern und Morgen, die wir Gegenwart nennen, unsere Gegenwart, und die mehr als alle Gestern eine Ahnung gibt von der Unbeständigkeit unseres Seins. Wie leben wir denn? Im permanenten Wandel, auf der Suche nach Halt, ohne wirklich innezuhalten zu können. Oder zu wollen. Trost als seltenes Pflänzlein. Flucht, Taumel des Konsums, Rauschzustände, neue Flucht. Ich kaufe, also bin ich. Wehe den Mittellosen. Eigentlich höchste Zeit abzutreten von der Bühne, auf der wir uns irgendwie eingerichtet haben und die wir Leben nennen. Geld, kaufen, noch mehr Geld, noch mehr kaufen, raffen, anhäufen. Haben, haben, haben. Wie kleineellosen! Kinder. Die Welt beherrscht von jenen, die nicht erwachsen wurden. Haben contra Sein. Alles ist schon gedacht worden. Meister Eckhardt und Marx, Freud und Fromm. Und? War all das Denken zu etwas nütze? Der Intellekt wächst himmelan, entschlüsselt Erbgut, baut Raketen, wird Datenbergen Herr… Und? Als Bewohner der westlichen Hemisphäre scheint er heute mehr denn je nichts als ein  Sklave zu sein, Sklave seines Konsums: Haben, mehr haben, viel mehr haben, Nutzloses kaufen, verbrauchen, noch mehr anhäufen, die Welt zumüllen mit Belanglosem. Sich dem Sog widersetzen? Schier aussichtslos: Sogar das menschenreiche China strebt nun nach dem Verlust von wahrem Wert und Würde –  Renaissance der Chinesen als Verbraucher, willig alles zu konsumieren, was die Massenproduktion hergibt. Menschheitsdämmerung als Dämmerung von Entseelten: Erstickungstod im Müll, im Ramsch und Plunder, im Entwerteten und Belanglosen. Oder etwa nicht? Wieviel haben Sie eigentlich, sagen wir vor fünf Jahren, für Ihren superschnellen Computer ausgegeben? Fünftausend? Sehen Sie? Und wie schneckenlangsam fräst er sich heute durchs Netz, durch all die Anwendungen, von denen er sowieso nur die Hälfte hinbekommt? Verschenken können Sie ihn, kaufen würde ihn niemand mehr. Fünftausend Mark, für die Sie hart gearbeitet haben… Herabgewürdigte Arbeit. Pardon, Sie haben Ihren Liebling natürlich fünf lange Jahre benutzt. Und, war das, was Sie erfahren, gesehen und geschrieben haben, soviel wert? Tatsächlich? Gratuliere.

Was bleibt? Ich frage Sie, was bleibt? Die Schönheit des Zwischenmenschlichen? Also wissen Sie. Geht’s noch banaler? Obwohl… Sagen Sie mir, wo es sie gibt, die intakten Zwei- oder Mehrsamkeiten? Sie leben in einer? Oho. Ich wette, Sie verdrängen und färben schön.

 

Hätte ich nur meinen Shakespeare bei mir… Nein, ich meine nicht den schmalen Band Sonette, die ich immer las, wenn ich mich am Unübertroffenen erfreuen wollte… Wenigstens die Gedichte von Hermann Hesse hat mir Klara gebracht. Sie liegen neben mir auf dem Nachttisch, und schon der Gedanke daran stimmt mich milde. Nein, ich erinnere mich voll Sehnsucht an Shakespeare, den irischen Terrier, dieses Bild von einem Hund. Das Fell beschaffen wie ein Kokosläufer, auch von der Farbe her. Er war schon zwölf Jahre alt, ein Methusalem, aber noch ganz munter, als sie ihn ins Tierheim brachten. Ihn ins Tierheim, mich ins Krankenhaus. Ordentlich und zuverlässig. Ob er noch lebt, der Hund, den ich so lange bei mir hatte? Wo werden sie ihn begraben haben? Haben sie ihn überhaupt begraben oder verbrannt? Tierkörperbeseitigung heißt das ja wohl. Er fehlt mir sehr, so sehr. Seine Augen, seine wundervollen graubraunblauen Augen glänzten von innen her. Mir schien, dass ich durch sie ins Unendliche schauen konnte. Auf den Grund seiner Seele, seiner wundervollen Hundeseele. Ja, lachen Sie nicht und werden Sie nicht zynisch! Hundeseele… höre ich Sie sagen, jetzt wird die Alte da im Bett noch bizarr. Haben Sie jemals einem Hund in die Augen geblickt? Oder einem beliebigen Tier, abgesehen von Regenwürmern, Eintagsfliegen und Ähnlichem? Einer sanftmütigen Kuh, einem handzahmen Pferd, einem dickwolligen Schaf, einer schnurrenden Katze oder eben einem Hund, der angeleint vor einem Supermarkt auf seinen Besitzer wartet? Haben Sie schon einmal voll Bedauern Zwiesprache gehalten mit einem Gorilla, Schimpansen oder Orang Utang, getrennt durch die Glasscheibe oder das Gitter eines Käfigs im zoologischen Garten? Wer schaut wen an? Schaut der Affe nicht scheinbar verwundert und obendrein auch voll Gelassenheit auf die Zoobesucher jenseits der Barriere, die ihn vom Leben trennt, für das er geschaffen wurde?  Betrachtet er nicht jene mit scheinbarer Nachsicht, die sich das Recht nehmen, ihn und andere vollkommene Geschöpfe auszustellen, sie ihrer Intimität zu berauben? Noch vor einem Menschenalter wurden auch Pygmäen oder Feuerländer, Zwerge und Riesen auf Jahrmärkten vorgeführt… Ein ergötzliches Schauspiel, das ein Hochgefühl der Überlegenheit in jenen aufkommen ließ, die niemals wirklich überlegen waren…Oder haben Sie schon einmal eine Schildkröte beobachtet, Nachfahrin von Lebewesen, die in ihrer Vollkommenheit Jahrmillionen vor uns, der selbsternannten Krone der Schöpfung, gelebt haben. Und heute noch leben, um ihr nacktes Überleben kämpfen und sich die in Selbstsucht versinkende Welt scheinbar weise betrachten.

Haben Sie schon einmal bemerkt, wie still Tiere sind, wenn man sich ihnen freundlich nähert und wie sie dann großzügig teilhaben lassen an dem, was viele Menschen im Hier und Heute kaum jemals wiedererlangen können… Wenn sie sich nicht von ihrer unerträglichen Habsucht, ihrer Gier nach dem Materiellen, ihrem Egoismus befreien… Nähern wir uns einem Tier, blickt es uns an. Was blickt uns da an, werden Sie fragen, wo doch Tiere keine „vernunftbegabten Wesen“ sind. Keine Angst, es hat nicht vor, uns zu durchschauen! Reicht aber sein bloßer Instinkt aus für eine solche Intensität des Blicks? Oder ist da mehr? Für die Alten stand außer Frage, dass Tiere eine Seele haben. Eine empfindende Seele, wohlgemerkt, die sich öffnet und Kontakt haben will mit der Welt. Und welches Sinnesorgan wird zum Fenster dieser Seele? Ja, Sie vermuten ganz richtig oder haben Sie es schon immer gewußt? Es sind die Augen. Und wenn unsere eigene empfindsame Seele noch nicht ganz erloschen ist, vermögen wir auf dem Grunde dieser Augen unsere eigene, ferne Vergangenheit zu erblicken. Freilich nur, wenn wir wollen und wenn wir den Panzer, der sich in vielen Jahren um unser Innerstes gelegt hat, abstreifen… Das Tier lädt uns ein, in der unergründlichen Tiefe seiner beredten Augen uns selbst zu sehen, wahrzunehmen, wie wir sind, aller Zwänge des modernen Lebens ledig. Dann werden wir, lassen wir unser zurechtgestutztes Menschsein los und uns auf diese Zwiesprache ein, in uns der Geschichte lauschen von einer Welt und einer Natur mit der wir einst verwurzelt waren, bevor sich die zwiespältige Kraft des Fortschritts unserer empfindsamen Seelen bemächtigte, unsere Wurzeln  ausgrub und sie achtlos verdorren ließ.  

Manchmal wenn ein Vogel ruft/ Oder ein Wind geht in den Zweigen/ Oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,/ Dann muss ich lange lauschen und schweigen./ Meine Seele flieht zurück,/ Bis wo vor tausend vergessenen Jahren/ Der Vogel und der wehende Wind/ Mir ähnlich und meine Brüder waren./ Meine Seele wird ein Baum/ Und ein Tier und ein Wolkenweben./ Verwandelt und fremd kehrt sie zurück/ Und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?

Wunderschön, nicht wahr? Der Vogel und der wehende Wind, ein Baum ein Tier, ein Wolkenweben… Was meint Hesse anderes, als dass wir der Natur - auch unserer eigenen - entfremdet sind... Wo ist die Antwort? Gibt es ein Zurück? Was steht am Ende des Vorwärts? Wird die Welt die Zukunft haben, die sie verdient hat? Hat sie überhaupt eine verdient? Und wenn ja, wie wird sie aussehen? Oder haben wir uns schon in einem finalen Verhängnis verstrickt? Große Fragen, von denen Sie sicher nicht hoffen, dass ich Sie Ihnen hier im Krankenhausbett beantworten werde. Aber sagen Sie mir bitte, und ich bitte Sie wirklich inständig, sagen Sie mir, ob Sie wenigstens ahnen können, was und wieviel wir abendländisch Zivilisierten verloren haben und uns dessen gar nicht bewußt sind? Es treibt mich um, wirklich um, hier verloren auf dem Rücken liegend. Ahnen Sie, wozu wir fähig wären, hätten wir nicht die Verbindungen zu unseren ursprünglichen Gefühlen, zu unseren empfindsamen Seelen gekappt, so wie man ein elektrisches Kabel einfach durchtrennt, wenn es zu lang ist? Wenn seine Länge sich als nutzlos erweist? Um des lieben Friedens – auch des eigenen Seelenfriedens - willen, um des Mehrwerts willen, um der Befriedigung von Bedürfnissen willen, die mit unseren ureigensten Bedürfnissen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, wegen unserer Karriere, wegen der Nachbarn, wegen der politischen Korrektheit, weil wir uns Hausbesitzer nennen wollen oder uns mit sechzig den makellosen Körper von Zwanzigjährigen wünschen. Weil wir Dinge nicht wahrhaben wollen, können, dürfen, ach, was weiß ich, weswegen noch. Wir haben so viel verloren ohne Trauer darüber zu empfinden. Sichtbare Trauer. Es wird aber sein, dass sich tief in uns diese Trauer breit gemacht hat, eine unerkannte, namenlose Trauer nach der Ursprünglichkeit, nach der Empfindsamkeit unserer Seelen. Nach der Ursprünglichkeit unserer Gefühle, unserer ursprünglich sensiblen Sinne. Erspüren Sie etwa die Gemütslage des Menschen, mit dem Sie Ihr Leben verbringen? Hab’ ich Sie ertappt, Ihre Leben laufen parallel, manchmal auseinander und sogar aus dem Ruder? 'Schatz, wie war es heute auf der Arbeit?’ Und der Schatz hat gar keine mehr, lief er aber nicht wie jeden Morgen mit der Aktentasche aus dem Haus? Die einen verstellen sich, die anderen haben kein Gespür für das, was wahr ist. Oder wollen es nicht haben, sind außerstande, die Schmerzen von Erkenntnis zu ertragen. Schmerz vermeiden, lindern, ausschalten, davon weglaufen, ihn wegsaufen. Einfach, praktisch, nicht immer sauber und sehr wirksam. Und preiswert…

Warum leben Menschen mit Haustieren? Es ist, glaube ich, nicht nur die Sehnsucht nach Nähe, nach Ersatz für das Fehlende zwischen den Menschen, es ist auch, und vielleicht vor allem, eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, der Ursprünglichkeit von Gefühlen. Da sind uns Tiere turmhoch überlegen. Unfähig sich zu verstellen, sind sie nicht ihrer selbst entfremdet, sie sind ganz einfach, sie sind. Die gleiche Faszination ging für westliche Reisende zu jeder Zeit von Naturvölkern aus... Mein Gott, wie ein Wahnsinniger ist Shakespeare an mir hochgesprungen, noch bevor ich die Eingangstür wieder geschlossen hatte. Ein Wiedersehen nach Stunden nur, quittiert mit zum Himmel springender Freude. Er konnte aber auch grausige Angst zeigen, etwa wenn er im Auto mitfahren sollte, im Bus oder einem Zug. Nein, das mochte er überhaupt nicht, da krümmte er sich und wurde ganz klein, sein Blick erlosch beinahe und die Ohren hingen schlaff herab. Und es geschah immer wieder, dass er meine Stimmungen zu verstehen schien und zu einem Spiegel meiner eigenen Befindlichkeiten wurde. War ich traurig, wirkte er bedrückt, war ich glücklich, freute er sich mit mir. Dann wieder sein archaischer Appetit, seine Gier, wenn er sich über das Fressen hermachte... Die unglaubliche Urgewalt dess unverfälschten, mit der Natur verwurzelten, nicht entfremdeten Seins, der Seele. Nennen Sie es, wie Sie wollen...

Als unsere abendländische Zivilisation zum Schlussakkord anhob - über 350 Jahre ist das nun her, und am Klangteppich dieses dumpfen Akkords wird fort- und fortgewebt - beschrieb Descartes das Tier als machina animata. Bedeuten anima, animus nicht sowohl Atem als auch Seele? Das Animalische und das Spirituelle aus der gleichen Wurzel stammend… Die Alten wussten viel von der Welt… Wissen, das wir  heute mühsam aus den Schuttbergen des Vergessens graben müssen. Unser geheiligter Fortschritt hat nicht nur die Spannweite ursprünglicher Wortbedeutungen gekappt, zurechtgestutzt hat er auch das tierische und menschliche Sein. Eine belebte, beseelte Maschine? Die Betonung liegt bei Descartes wohl auf „Maschine". Ausdruck eines neuen Zeitalters. Fortschritt, der Rückschritt birgt. Schlussakkord. Der Mensch als Herr der Natur, als ihr Besitzer - ein Missverständnis? War die Natur dem Menschen nicht nur anvertraut, um sie klug zu verwalten, nicht um sie an sich zu reißen und sie sich „Untertan“ zu machen? Dieser Mensch, fortan gerüstet mit moderner Technik und den Gesetzen des Messbaren, überzog die Welt mit dem Raster des Rationalen und verfiel im Rausch immer neuer Erfindungen auch dem Wahn der Machbarkeit. Da lag die cartesische Mutmaßung über den Esel nicht fern: Wenn man einen Esel schlägt und dieser brüllt, sei es im Prinzip dasselbe, als ob man bei einer Orgel eine Taste drückt und diese dann einen Ton von sich gibt! Im von der Mathematik, der Ratio in Reinkultur, geprägten System seiner Denkkoordinaten, in dem sich die Welt entseelt und der Bereich der Seele nur auf den schmalen Bezirk von Denken und Bewusstsein verengt wird, hatte Descartes wohl recht: Glaubt man, Tiere seien gefühllose Maschinen, Körper ohne Seele, ist alles erlaubt: Man nähert sich ihnen so, wie es das neue Zeitalter fordert, vom Standpunkt des Habens. Man darf sie benutzen, ausbeuten, quälen, wegwerfen. So wie man gebrauchte Dinge wegwirft…

Wird es Ihnen Zuviel? Sie streiken, ich merke es Ihnen an, Sie wollen nicht mehr zuhören. Verdenken kann ich es Ihnen nicht. Was biete ich Ihnen schon? Den Anblick einer kranken Frau. Eine kranke Frau, auf dem Rücken liegend im Krankenhausbett will sich letzte Klarheit verschaffen, schickt ihre Gedanken auf die Reise und glaubt, irgendjemand höre ihr zu. Wie vermessen. Wie ist diese Frau entfremdet von der Wirklichkeit, die sie umgibt, werden Sie sagen. Sie haben Recht. Aber Entfremdung von einer Wirklichkeit, in der der Mensch entfremdet ist, heißt genau das Gegenteil von Entfremdung, heißt bei sich zu sein, im Einklang mit den wahren Werten, dem, was man selbst darunter versteht, und nicht abhängig von etwas, das einem aufgezwungen wird. Dieses Recht nehme ich mir endlich. Spät, zugegeben. Zu spät, vielleicht. Aber ich nehme es mir. Sie aber können tun und lassen, was Sie wollen. Kann es sein, Sie wollen mir weiter zuhören? Wo war ich stehengeblieben?  Ja, beim Benutzen, Ausbeuten, Quälen und Wegwerfen von Tieren… und Menschen. Wie ergeht es eigentlich Menschen in einem Gemeinwesen, in dem es erlaubt ist, Tiere zu quälen? Tiere, in deren Augen wir unsere eigene, ferne Vergangenheit schauen? Wie ergeht es Menschen, die es vermögen, diese Vergangenheit zu erblicken und denen, die das Potenzial haben, es zu lernen? Was glauben Sie, wie sich der Tierzüchter fühlt, der im Dienste schwarzer Zahlen die ihm anvertrauten Geschöpfe leiden lassen muss? Sie meinen gut? Sie denken, der ist sowieso abgestumpft, sonst hätte er nicht solch einen Beruf. Auf den ersten Blick vielleicht. Aber was wissen Sie von seiner unendlichen Verdrängung, von seinem wunden Unterbewußtsein, das sich in schlechten Träumen zu Wort meldet, ihn nachts schweißgebadet hochschrecken lässt, watend in Kot und und übelriechendem Futterbrei, herausgebrochenen Eckzähnen und blutigen Hoden kleiner Ferkel.

Wissen Sie, das ganze Geschwätz und Spendenbeutelgeklingel von selbsternannten Tierschützern ödet mich an. Tierschutz - Menschen schütz, wo liegt da der Unterschied? Man sammelt Geld und müsste eigentlich eine neue Gesellschaft herbeizaubern, ein Gemeinwesen nach dem Maß von Tier und Mensch. Dann gäbe es nicht den Schweinezüchter, den nur die Kosten interessieren dürfen und der seine Tiere deshalb in viel zu enge Boxen zwängt, in denen sie ihr kurzes Leben auf Metallrosten stehend fristen müssen, ohne Stroh, ohne Wärme… Wo sich nur Muttersauen hinlegen dürfen, weil die Ferkel anders nicht aus ihren Körpern zu holen sind. Sie kaufen doch auch billiges Schweinefleisch? Geben Sie es ruhig zu, Sie wären doch schön blöd, zum Öko-Fleischer zu laufen und den vierfachen Preis für das Schnitzel zu bezahlen… Oder Vegetarier zu werden… Aber ich sage Ihnen, es ist genau diese Abspaltung, dieses Verdrängen der Wirklichkeit, die uns eines Tages – ob er fern oder nah ist, weiß ich nicht – zum Verhängnis werden wird. Zum finalen Verhängnis. Kann denn die ausgewogene Kosten-Nutzen-Relation wirklich das einzige, geheiligte Prinzip in unserem armseligen, zurechtgestutzten Leben sein? Wenn es nicht so wäre, gäbe es keine Transporte, bei denen Tiere verdursten. Und auch den Sozialhilfeempfänger nicht, den ich einmal vor dem Supermarkt beobachtete, der nichts wertvolleres um sich hat als seinen Hund, ihn aber anherrschte und ihm die Leine über den Kopf pfeifen ließ, weil seine Stütze mal wieder für Schnaps draufgegangen war und dem es im Suff vorkam, als sei das Tier an seinem eigenen verkorksten Leben schuld.

Es ist wohl so, dass Tiere gequält werden von gequälten Menschen. Gequälte Menschen sind  ihrer selbst, ihrer Natur, ihrem Sein entfremdet, entwurzelt. Tier und Mensch gehören zusammen. Der Mensch vor dem Zeitalter, das einen Descartes hervorbringen konnte, war seinen Tieren nah, lebte unter einem Dach mit ihnen. Sie gaben ihm, was er brauchte: Wolle, Milch, Fleisch, Dung für die Felder und Wärme im Winter. Es war eine Symbiose, ein gegenseitiger Nutzen: Der Mensch schenkte den ihm anvertrauten Tieren Aufmerksamkeit, ermöglichte ihnen ein friedliches, gemächliches Leben nach ihrem Maß. Sicher, die Zeit stand nicht still, neunzig Prozent der Bevölkerung in Bauernkaten brachten keinen Fortschritt und das Paradies war längst schon verloren. Oh ja, unsere Welt ist fortgeschritten. Nicht nur von der Natur, die sie umgibt, sind die meisten Menschen heute entfremdet, neuerdings auch von ihren eigenen Körpern, von ihren Seelen sowieso. Entfremdung vom eigenen Sein. Krankheit, Alter und Tod waren in den Katen der Bauern so gegenwärtig wie in den Gemächern der Adeligen. Heute sind sie nicht gesellschaftsfähig. An den Rand gedrängt und weggesperrt. In Krankenhäuser, Altenheime, dorthin, wo das Leben in seiner Geschäftigkeit davon keine Notiz nehmen muss. Ha, Geschäftigkeit des Lebens, eines zurechtgestutzten, reduzierten, seines Wesens verlustig gegangenen Lebens, aber das scheint kaum jemand zu bemerken. Alter, Krankheit, Tod ekeln. Sauber muss alles sein, aseptisch, steril. Flucht vor dem Animalischen, Flucht vor dem Menschlichen. Merkwürdig, noch nie waren in der Öffentlichkeit so viele nackte Körper zu sehen. Im Fernsehen, auf Plakaten, auf den Seiten der Zeitungen. Frauen und Männer. Eigentlich doch ein Zeichen von Ursprünglichkeit. Oder? Es sind oberflächlich schöne Körper, durchtrainiert, camoufliert und anschließend rechnergestützt noch mehr ästhetisiert. Bilder imaginärer Menschen. Keine menschlichen Körper. Makellos, sauber und geruchlos, steril. Solchen Menschen werden sie nie begegnen. Aber Sie selbst werden sich verändern, sauber, geruchlos und steril werden. Einen makellosen Körper werden Sie wohl kaum je besitzen, aber sie werden diesem Trugbild nachjagen und unzufrieden sein mit sich selbst. Oder glauben Sie nicht, dass sich tief in Ihrem Unterbewusstsein das festsetzen wird, was Ihnen jeden Tag vorgesetzt wird? Sie wären eine Ausnahme. Ich wage zu behaupten, dass man bald Ekel vor allem Ursprünglichen empfinden wird. Würden Sie eine Reise mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit unternehmen, Sie würden sich ob des in jedem Zeitalter herrschenden Gestanks ohne Pause übergeben. Solange s estanks wohl pausenlos tretenlichen empfinden wirdeem Unterbewußtsein dnen Sie sich nicht an ihn gewöhnt haben. Ich merke schon, wie Sie die Nase rümpfen. Animalisch-menschlicher Gestank herrschte in der Rotte der Neandertaler, auf dem Forum Romanum, das ganze Mittelalter hindurch, in Renaissance und Barock in den Bauernkaten ebenso wie in den Gemächern der Adeligen, auch noch in den Fabrikhallen mit vielen Hunderten von Arbeitern. Das ist vorbei, die chemische Industrie mit ihren Putzmitteln und Deodorants hat ihren Siegeszug vollendet und den Geruch des Seins abgetötet mit den Bakterien, die ihn produzieren. Sogar den Hunden wird, da sie mit den Menschen in Wohnungen leben und sich in deren Lebensweise zurechtfinden müssen, der Geruch streitig gemacht. Beseitigt. Einfach so. Die Industrie produziert Shampoo für Hunde, für kurzhaarige, für langhaarige, für Welpen, die den natürlichen Glanz des Fells betonen und es gut kämmbar machen sollen, produziert wird Ohrenspülung für Hunde, die den schlechten Ohrengeruch für längere Zeit beseitigt ebenso wie Flohschutzbänder, -sprays, -shampoos und -puder sowie Einmal-Feuchttücher zum Reinigen von Hundeaugen und –ohren, Creme zur Pflege rissiger und empfindlicher Hundepfoten…  Die Werbung suggeriert uns das Bedürfnis und wir kaufen, wollen haben, wollen, dass es unserem Tier gut geht, wollen, dass es gut riecht und nicht nach Hund, glauben, seine Ursprünglichkeit bekämpfen zu müssen, wollen haben, Haben als Entfremdung, Sein als ihr Gegenteil. Wir haben Hunde und  Kinder, Ehemänner und Ehefrauen, Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, Freundinnen und Freunde… Warum sind wir nicht einfach mit ihnen? Warum? Wären wir es, hätte unsere Welt ein menschlicheres Maß.

d Barock in denRomanum, das ganze Mittelalter hindurch, in Renaissance und Baroch       Sehen Sie, wie aufs Stichwort erscheint die noch sehr junge Schwester, nimmt den Haferbrei mit, den ich kaum angerührt habe. In zwei Minuten wird sie wiederkommen mit dem Schieber. Wird sie mit mir reden? Nein, dazu ist keine Zeit... Sie wissen – die ausgewogene Kosten-Nutzen-Rechnung… Dann noch eine halbe Stunde, und sie wird mit der noch jüngeren Hilfsschwester kommen und mein Bett machen. Schnell. Tausendmal geübte Handgriffe. Die Spritze in mein kaum noch vorhandenes Fleisch. Danach das Schälchen mit den Tabletten zur Nacht. Sie wird es auf meinen Nachttisch stellen und „Gute Nacht“ sagen. Mein Körper ist mit einem Bann belegt. Man nähert sich ihm mit Gummihandschuhen, säubert ihn, macht ihn schmerz- und geruchfrei. Er geht dahin, meine Seele noch nicht. Mein Geist ist wach. Hellwach. Niemand ist bei mir außer ich selbst. Musste ich wirklich erst sterbenskrank werden, um das zu begreifen? Ich kann gar nicht einsam sein und verlassen, denn ich bin ganz bei mir, mit mir.

Dennoch, ich warte sehnsüchtig auf Klara, die erst übermorgen kommt und erinnere mich nicht ohne Wehmut an Shakespeare, den Hund mit den wundervollen graubraunblauen Augen.

Oft war ich mit ihm unten am Fluss, wo er sich austoben konnte. Es war fast immer die Zeit des Sonnenuntergangs, wie gerade jetzt. Ich liege an einem Fenster im zehnten Stock des Klinikums, das Fenster geht nach Westen, müssen Sie wissen, es ist Sommer und die Sonne versinkt oft sehr theatralisch. Meine Seele wird ein Baum/ Und ein Tier und ein Wolkenweben./ Verwandelt und fremd kehrt sie zurück/ Und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben? Gestern Abend war das Schauspiel großartig: Direkt über dem Horizont ein lichter blassorange-bläulicher Streifen mit Einsprengseln dunkler Wolken, darüber stahlgraue Wolkenbänke und genau dort, wo die Sonne sich anschickte unterzugehen, waren die Säume der stahlfärbenden Wolken in ein strahlendes Orangerot getaucht. Wo sie aufrissen, gaben sie ein unglaublich leuchtendes Rot frei. Weiter oben waren alle Himmelsfarben auszumachen, ein sphärisches Türkis ebenso wie allen Schattierungen von Blau, Grau und Orange. Stahl. Herrlich. Je tiefer die Sonne hinter die Häuser sank, desto blutroter wurde ihr Schein, bis das Rote in den stahlgrauen Wolkengebirgen fahl wurde und schließlich ganz gelöscht war.

 

    

 

 

 

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